2022 das Jahr in welchem ich ungefähr 5’000 Haustüren gesehen habe, neigt sich langsam dem Ende zu.
Habe ich im Frühjahr noch in ganz Oberrieden ca. 2’000 Klingeln betätigt, waren es nun im Rahmen der Kantonsratswahlen seit September ca. 3’000 im ganzen Bezirk Horgen.
Kaum zu glauben, was man auf so einer Tour alles erleben und lernen kann!
So wird einem von Bewohnern erklärt, wie ein Quartier noch vor 40 Jahren ausgesehen hat, weil sie stolz darauf sind, schon seit über 40 Jahren in der gleichen Wohnung zu leben. Oder solche, die gerade erst aus einem anderen Kanton zugezogen sind, sich aber jetzt schon wohl fühlen.
Beim Stichwort Umzug erinnere ich mich an eine Begegnung im Oktober, bei welcher ich spontan zur Mithilfe eingespannt wurde.
Zudem gab es genug Gelegenheiten die Müllsäcke welche vor der Türe standen (auf Anfrage) mitzunehmen und in den Container zu schmeissen.
Dankbar um Hilfe war auch ein altes Ehepaar in Horgen, welches mit einem Sackrolli die Zeitungsbündel an die Strasse bringen wollte.
Da sieht man Häuser in welchen man sich noch kennt und die Nachbarschaftshilfe gross geschrieben wird und dann wiederum anonyme Blocks, in welchen niemand etwas mit dem anderen zu tun haben will.
Jedes Quartier hat seine Eigenheiten und jedes Haus sein eigenes Mikroklima. Manchmal erkennt man die Stimmung schon daran, wie Häuser von aussen aussehen und beim Eintreten in die Treppenhäuer (nachdem der Erste auf den Türöffner drückt) tun Beleuchtung, Gerüche, Sauberkeit und Wandschmuck ihr Übriges dazu.
Da gibt es Treppenhäuser, die scheinen einem regelrechten Konzept zu folgen. Bilder werden von den Bewohnern peinlichst genau aufgehängt und vom Eingang bis zum dritten Stock trägt offenbar jeder seinen Teil dazu bei.
Interessant auch in der Weihnachtszeit, wie plötzlich ein “Wettrüsten” stattfand, um den Preis für die am schönsten geschmückte Türe im ganzen Bezirk zu bekommen. Von Geschenkschleifen über verschiedene Engel bis hin zu ganzen Krippen war alles zu finden.
Ein ähnlicher Effekt fand bereits an Halloween statt, obwohl dieser (angelsächsische) Brauch vor 30 Jahren bei uns überhaupt nicht existent war. Gut, dass ich am 31. Oktober mit dem Spruch “ich bin der Einzige, der etwas vorbeibringt” punkten konnte.
Es gibt aber auch mehr als genug Schattenseiten in unserem Bezirk.
So wird man in Quartieren wie der Sihlmatten in Adliswil darauf angesprochen, dass die Leute Angst haben, keine Wohnung mehr zu finden und sie bald raus müssen. Man weiss auch, dass nachher Megablocks gebaut werden, mit überteuerten Wohnungen, in welchen sich nur noch anonyme Expats einquartieren, die den Mittelstand bei uns verdrängen.
Das Gleiche findet auch am anderen Ende der Skala in Genossenschaftswohnungen statt, wo die wenigen Nachbarn, die sich noch kennen, der Überfremdung zum Opfer fallen und mit niemandem mehr Deutsch reden können. Da erlebt man in aller Deutlichkeit, wie der durchschnittliche Bürger von beiden Seiten in die Zange genommen wird und dies ist keine Propaganda, sondern die bittere Realität, die ich in über 200h mit eigenen Augen gesehen habe.
Apropos Augen, fällt mir eine Quizfrage ein: “Wer darf wählen und abstimmen, aber kann dies nicht selber tun?”
Ein Blinder, den ich kennengelernt habe.
Er machte mir auf eindrückliche Weise bewusst, dass es für Blinde in der Schweiz unmöglich ist, selbständig wählen zu können, denn solche Menschen müssen immer jemand anderem vertrauen, dass die Unterlagen korrekt ausgefüllt werden.
Dies ist auch der Grund, dass besagter Herr die Demokratie in unserem Land verweigert.
An einer anderen Türe dann wiederum das Schicksal einer älteren Frau, die irgendwo im Niemandsland zwischen arm und reich sich wiedergefunden hat.
Sie ist gezwungen ihr Brot selbst zu backen und hat ein Prepaid-Abo, mit dem sie für zehn Franken, drei Monate über die Runden kommt. Im Volksmund sagt man auch “zu arm um zu leben, zu reich um zu sterben”.
Dennoch findet man auf solch einer Reise keine klare Definition für Begriffe wie “arm sein”.
Ein paar Häuser weiter war es für eine “arme Familie” schon sehr schwierig, weil sie auf ihr Zweitauto verzichten müssen.
Bei solch grossen Unterschieden in der Wahrnehmung war es ab und zu schwierig, diese Erzählungen neutral zur Kenntnis zu nehmen. Dennoch ist mir dies immer gut gelungen, da mir klar war, wie individuell die Menschen und ihre Empfindungen sind.
Vor allem konnte ich mein Ziel erreichen und mit gutem Beispiel vorangehen, weil ich immer wieder sage, dass die Politiker den Zugang zum Volk verloren haben.
So war dies auch etwas vom meistgenannten, an den zahlreichen Wohnungstüren, dass die Besuchten es sehr schätzen, dass “endlich mal einer persönlich vorbeikommt und sein Gesicht zeigt”. In einem von sieben Fällen war es sogar so, dass sich die Menschen dafür aufrichtig bedankt haben.
Ich könnte noch unzählige Geschichten schreiben über:
- Die Frau, die mich nach kurzem Gespräch als SVP’ler ablehnte, die Tür schloss und fünf Sekunden später wieder öffnete um zu sagen “aber Sie werde ich trotzdem wählen!”.
- Der junge Typ, welcher einen “Elevator Pitch” von mir verlangte, weshalb ich gewählt werden will.
- Die Person, die gerade aus einer anderen Ecke des Dorfes zur Wohnung der Eltern gegangen ist, um die Pflanzen zu giessen.
- Der 17-jährige, der noch nicht wählen kann und (bis zu unserem Gespräch) niemals SVP wählen würde.
- Die 95-jährige, die aussieht wie 70, aber sowieso schon lange nicht mehr wählt, weil sie dies den Jüngeren überlässt.
- Die Mutter, welche die Tür öffnet und sagt “ich komme gleich wieder, muss nur noch kurz das Kind fertig wickeln”.
- Der Herr, der so enttäuscht war, dass ich kein Grüner sein kann.
- Der Vietnamveteran, der froh war, dass ich ihm unsere Demokratie näher bringen konnte.
- Die Leute, die ich zusammengebracht habe, damit sie eine Einsprache gegen eine Mobilfunkantenne machen konnten.
- Die Nachbarn, die durch meinen Besuch nach über einem Jahr endlich mal wieder miteinander reden konnten.
- Die Rentnerin, die zuhause alleine ihrem in der vergangenen Nacht verstorbenen Bruder trauern musste, weil ihre Kinder sie schon lange nicht mehr besuchen.
- Der Typ, der aus der Badewanne gesprungen ist, um (mit Bademantel) die Tür zu öffnen.
- Der Italiener der nach 50 Jahren in der Schweiz noch immer nicht eingebürgert ist und sich trotzdem über ein Schoggi-Emoti freuen konnte.
- Und die eingebürgerte Engländerin, die nun weiss, dass man die Wahllisten abändern darf und kumulieren kann.
Vielleicht schreibe ich sogar mal ein Buch über all das Erlebte. 😉